Aus: Böhm R, 2010. Heiße Luft nach Kopenhagen. 2. Erg. Auflage, Vabene. ISBN 978-3-85167-243-5
Kopenhagen 2009: Weiterleben nach einem Hype
Staunend und zunehmend atemlos konnte man in den Herbst- und Wintermonaten 2009 die hurtig sich gegenseitig aufschaukelnden Abstrusitäten verfolgen, die im Vorfeld der Monsterkonferenz namens „COP-15“ auf uns eingeströmt sind. Diese hatte im Dezember dieses Jahres in Kopenhagen 15.000 Politiker, Lobbyisten, Journalisten, Klimabewegte, Klimaleugner und vielleicht auch eine Handvoll Klimatologen versammelt. Da ließen die einen durch den Klimawandel schlicht „die Menschheit innerhalb weniger Generationen aussterben“, während die anderen nach einem Hackerangriff auf ein englisches Universitätsinstitut triumphierend ein „Climategate“ konstruierten, mit dem der „Nachweis“ erbracht worden sei, daß das Gerede vom Klimawandel in Wahrheit nur eine Klimalüge wäre. Diese beiden Extrempositionen waren die vorläufigen Höhepunkte in einer sich schon seit längerem aufschaukelnden Spirale des gegenseitigen Übertrumpfens mit neuen Sensationen, mit dem in aller Öffentlichkeit ein durchaus realer Problemkreis systematisch zu Tode lizitiert wird, der es durchaus wert wäre, sich rational mit ihm auseinander zu setzen.
Unter uns gesagt – die üblicherweise jämmerlich simplen und eindimensionalen „Argumente“, mit dem uns die beiden Flügelfraktionen andauernd beglücken, mögen ja vielleicht aus dem Blickwinkel von Marketingstrategen oder Profis der Unterhaltungsbranche interessant sein; für etwas differenzierter Denkende sind sie nur noch eine Zumutung. Meist sind sie nach dem Muster „entweder – oder“ gestrickt und werden damit dem stark vernetzten und nicht gerade unkomplizierten Klimasystem unseres Planeten ungefähr so gerecht, wie der Versuch eines Lottospielers, durch das Setzen seines Geburtsdatums die Gesetze der Statistik zu umgehen. Trotzdem möchte ich doch mit einigen Beispielen versuchen, nochmals für den soliden Boden der Rationalität zwischen den Extrempositionen der Klimawandeldebatte zu plädieren. Es gibt nicht nur das „entweder oder“, obwohl uns das speziell in den beiden Jahren zwischen IPCC-2007 und Kopenhagen 2009 die schrillen Kombattanten des öffentlichen Diskurses weiszumachen versuchen.
Es war die Grundintention dieses Buches bisher, mit sachlichen Argumenten zu zeigen, wie man sich bei etwas gutem Willen im Labyrinth der Extrempositionen zurechtfinden kann. Das möchte ich mit einigen Beispielen aus jüngster Vergangenheit versuchen, die sich seit der ersten Auflage ereignet haben und damit für ein kleines Quentchen Rationalität plädieren – sogar mit einem Schuß echter und zunächst wertfreier Wissenschaft vom Klima selbst.
Die Sache mit dem Meeresspiegel – IPCC-2007 re-visited
Kopenhagen, Bella Center, März 2009: 2000 Tagungsteilnehmer sind dem Ruf der Universität Kopenhagen zu einer internationalen Klimakonferenz gefolgt ...??? Nein, es handelt sich nicht um einen Datumsfehler, und auch die relativ geringe Zahl der Teilnehmer entspricht den Tatsachen. Es gab nämlich eine Vorbereitungskonferenz zur viel bekannteren und zur „letzten Möglichkeit, die Menschheit vor der Klimakatastrophe zu retten“ hochgespielten 15. „Conference of the Parties“ (COP15), die im Dezember desselben Jahres in derselben Stadt und demselben Kongreßzentrum weit mehr Menschen anzog – Fachleute aus der Klimabranche waren dort weniger gefragt: Sie erinnern sich? „Geforscht ist genug, jetzt muß gehandelt werden“, es ist „fünf vor zwölf“, es geht ja bekanntlich schlicht „ums Überleben der Menschheit“ und wie die Sprüche alle heißen…
Doch von diesem Weltevent der Medienbranche später. Vorerst wollen wir uns einen Seitensprung in die Welt der normalen Naturwissenschaft leisten. Und normale Wissenschaft stand durchaus (auch) auf dem Programm der Kopenhagener März- Konferenz. Die Grundidee war, dort den wissenschaftlichen Fortschritt darzustellen und zu diskutieren, den es seit der letzten Festschreibung des state of the art durch den 4. IPCC Report im Jahr 2007 gegeben hatte. Also etwa das, was im Jahr 2006 Sache war, wenn man die peniblen Qualitätskontrolle in Rechnung stellt, die den Report vergleichbar mit wissenschaftlichen Journalen macht, die dem peer reviewing unterworfen sind. Darunter versteht man die Prüfung einer zur Veröffentlichung eingereichten wissenschaftlichen Arbeit durch Fachkollegen (engl. peers). Dadurch soll ein gewisses Qualitätsniveau sichergestellt werden, und das dauert seine Zeit. Inklusive Layout, Druck und Binden kann ein Jahr und mehr vergehen – durchaus ein Nachteil in unsrer schnellebigen Zeit. Und deshalb ist bis zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen (Februar 2010) der geplante Sammelband über die Kopenhagener Konferenz im März 2009 noch nicht erschienen. Somit war er auch nicht im Dezember 2009 vorhanden – eine durchaus vertrackte Situation für die COP15, der somit die qualitätsgeprüften wissenschaftlichen Grundlagen für die anstehenden politischen Entscheidungen streng genommen fehlten. Ich will anhand des folgenden Beispiels zeigen, auf welch wundersame und unauffällige Weise dieses Manko „gelöst“ wurde. Das Beispiel handelt von der Frage, ob die 29 bis 59cm Meeresspiegelanstieg aus Kapitel 10 von IPCC-2007 bis zum Ende des 21. Jahrhundert noch realistisch sind, oder ob es mehr sein werden – in erster Linie bedingt durch die im Report als Möglichkeit erwähnte aber nicht bezifferte Unsicherheit durch die Eisdynamik Grönlands und der Antarktis. Ich halte die Frage des Meeresspiegelanstieges für eine der wichtigsten im Zusammenhang mit dem Klimawandel, und ich bin auf diesem Gebiet so etwas wie ein fachkundiger Laie, da der Bereich Klima-Gletscher zwar seit gut 30 Jahren zu meinen beruflichen Schwerpunkten zählt, ich allerdings in erster Linie auf den kleineren Alpengletschern unterwegs bin und nicht auf den Inlandeisen Grönlands und der Antarktis, auf die es hier in erster Linie ankommt. Der genaue Titel der entsprechenden Fachsitzung in Kopenhagen lautete „Cryosphere: Instabilities, Sea Level Rise“.
Kurzzusammenfassungen aller Vorträge der Konferenz gibt es im Internet.
Die Kryosphärensitzung der Konferenz war eine von 58 jeweils ein bis zweitägigen Fachsitzungen, die verschiedenen Aspekten des Themas „Klimawandel“ gewidmet waren. Da dafür nur eine Woche Zeit war, fand das meiste in Form von Parallelsitzungen statt, in denen man „unter sich“ war. Das Interesse der Öffentlichkeit galt den groß angelegten Plenar-Events im Hauptsaal, die den mediengerechten Rahmen bildeten. Und da konnte man tatsächlich etwas lernen, was die mediale Aufbereitung für die staunende Öffentlichkeit betrifft. Da liefen im Hintergrund in Superbreitwand die grandiosen Zeitrafferfilme der kalbenden Gletscherzungen Grönlands von James Balog. Hier erklärten Stars von „Lord“ Stern bis PIK-Chef Schellnhuber, wie sie die Welt neu organisieren würden, um sie vor dem Klimakollaps zu retten, und hier durften schließlich ausgewählte Leiter und
Leiterinnen einiger Fachsitzungen berichten, was dort an Neuigkeiten gegenüber IPCC-2007 zu Tage gekommen war. Gleich vorweg genommen, Dorthe Dahl-Jensen, die Leiterin der Kryosphärensitzung hatte dort keinen Auftritt, als der damalige dänische Ministerpräsident, Anders Fogh Rasmussen aus den Top-Wissenschaftlern der Tagung „konkrete, klare und eindeutige“ Ergebnisse herauszuquetschen versuchte, mit denen er „im Dezember die Politiker der Erde zum Handeln zwingen wollte“. Nun, im Dezember hat das dann ein anderer Rasmussen versucht, unser Anders Fogh war ja in der Zwischenzeit zum Generalsekretär der NATO mutiert und hatte naturgemäß mit dem Erdklima nicht mehr allzu viel im Sinn. Doch zurück zur Kryosphäre und zur Frage, warum die tatsächlich eminente Rolle der Dynamik der Eismassen Grönlands – trotz Breitwandfilmen und dynamischer Gesänge eines Inuit-Folk-Rock-Stars – bei der Schlußapotheose der Konferenz nicht präsent war. Denn genau in dieser Frage, wie viel der großen Inlandeismassen durch direktes Abbrechen (Kalben) der Eisströme in den Ozean zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen würde, liegt die in IPCC-2007 erwähnte Unsicherheit. Weniger Unsicherheit herrscht über denjenigen Beitrag, den ein Überwiegen des Abschmelzens im Zehrgebiet gegenüber der Schneeakkumulation im Nährgebiet leistet, den hat die Wissenschaft schon recht gut im Griff.
Die mengenmäßige Bedeutung des Eiskalbens ist eine rein naturwissenschaftliche Frage, und sie wurde vor erst kurzer Zeit auch auf gute naturwissenschaftliche Art aufgeworfen. Es war in den Jahren um die Millenniumswende, als verschiedene in Grönland forschende Gruppen (Lüthi et al., 2002, Joughin et al., 2004) an großen Ausflußgletschern des Inlandeises wie dem Sermeq Kujalleq bei Ilulissat (früher Jakobshavn Isbrae) im Westen und dem Helheimgletscher im Osten starke Beschleunigungen der Fließgeschwindigkeit und damit der Kalbungsraten gemessen hatten. Gegenüber früher üblichen Geschwindigkeiten in der Größenordnung von höchstens 7km pro Jahr waren es nun beim Jakobshavn Isbrae 13km/Jahr, um die sich dieser größte Grönländische Eisstrom plötzlich ins Meer hinein bewegte und sich an der Abbruchkante in Felder von Eisbergen auflöste. Für derartige Geschwindigkeitszunahmen sind nun verschiedene Gründe denkbar. Zum einen würde eine Zunahme der Schneeakkumulation im Inland derartiges bewirken, allerdings nicht mit der Plötzlichkeit, wie sie die aktuellen Meßergebnisse zeigten. Und in diesem Fall wären auch nicht die gleichzeitig sich stark zurück verlagernden Kalbungsfronten erklärbar, die an diesen beschleunigten
Gletscherzungen erkennbar waren. Jay Zwally und Kollegen brachten im Jahr 2002 eine ganz andere Möglichkeit ins Spiel, der später von James Hansen in einem 2005 in Climatic Change veröffentlichten Interview mit Zwally zu großer Bekanntheit auch außerhalb der Fachwissenschaft verholfen hatte. Die Idee bestand in der Annahme, daß das durch die Erwärmung zunehmenden Schmelzwasser es schaffen würde, von der Oberfläche durch hunderte bis tausende Meter Eis bis zum Eisuntergrund vorzudringen um dort eine Art Rutschschicht zu bilden, die den Reibungswiderstand sprunghaft herabsetzen würde – also ein Anstoß der am Rand des Eisschilds gemessenen Beschleunigung aus dem Inneren. Dafür gab es keinen meßtechnischen Nachweis – es gibt keine Möglichkeit, bis zum Untergrund der Inlandeismassen vorzudringen und dort dessen Beschaffenheit zu untersuchen. Trotzdem kreierte das marketingtechnische Genie von James Hansen mit einem einzigen Slogan daraus so etwas wie einen neuen Eckstein der Klimawandeldebatte: Sein „slippery slope to hell“, den er aus den vorsichtigen Äußerungen Zwally’s machte, schlug wie eine Bombe ein, und wird wohl auch noch lange in unseren Köpfen umherspuken – auch wenn die Rutschbahn in die Hölle so nicht funktioniert, wie sich in der Zwischenzeit herausgestellt hat. Denn die Mühlen der Wissenschaft mögen zwar nicht so schnell malen wie die Quickies der Marketingstrategen, aber letztere geben – auch wenn sie überzogen sein mögen – manchmal den Anstoß zu Anstrengungen, die zu echten und belegbaren Fortschritten in der Forschung führen. Und das war auch beim slippery slope der Fall. Bereits Im selben Jahr (Zwally et al, 2005) zeigte eine sorgfältige und ausführliche Gesamtvermessung der Volumsänderungen des Eises Grönlands und der Antarktis in den Jahren 1992-2002 eher keine Spur des Effekts. Insgesamt ergaben die für diesen Zeitraum erstmals zur Verfügung stehenden Präzisions- Radar-Altimeter der Satelliten ERS-1 und ERS-2 in Summe eine Erhöhung des global mittleren Meeresspiegels durch die beiden größten Eisschilde der Erde von 0,5mm pro 10 Jahren.
Die Autoren des einschlägigen Kapitels des IPCC-Reports waren im Jahr 2006 allerdings in einer wenig beneidenswerten Lage, da zu dieser Zeit noch keine verwertbaren Ergebnisse über die Ursachen der beschleunigten Eisdynamik vorlagen. Sie zogen sich mit Anstand aus der Affäre, indem sie genau auflisteten, was der zu diesem Zeitpunkt gegebene Stand der Forschung bereits hergab, also die Zahlen von in Summe 20 bis 50cm Meeresspiegelanstieg bis 2100 (IPCC, 2007, Kapitel 10, Tabelle 10.7), die auf die thermische Ausdehnung der Ozeane und auf die „normalen“ Massenbilanzen der Gletscher und der Inlandeise zurückführbar sind. Die Möglichkeit eines Zusatzbeitrages durch verstärkte Eisdynamik und Kalben wurde erwähnt, aber – wissenschaftlich korrekt – nicht beziffert, da einfach die Grundlagen dafür fehlten. Nicht zuletzt deshalb war es für die Kopenhagen Konferenz im März 2009 so wichtig, zu prüfen, ob der state of the art in der Zwischenzeit vielleicht neue Ergebnisse geliefert hätte. Und das war ja dann auch der Fall, wenn auch nicht in der von manchen vorweggenommenen Weise eines slippery slopes, der die Gefahr von
zumindest einem, wenn nicht 2 Metern in sich barg, statt der maximal 50cm von IPCC-2007. Stefan Rahmstorf hatte ja beispielsweise in einer Science-Publikation im Jahr 2007 mit einem sehr simplen und nicht-physikalischen Modell die Marke bereits auf „bis zu +1,4m“ hinaufgeschraubt, und eine pfiffige Studie von Ted Tad Pfeffer und Kollegen (Pfeffer et al., 2008) hatte für den kombinierten Effekt des beschleunigten Kalbens grönländischer und westantarktischer Gletscher eine von den Autoren selbst als unrealistische absolute Obergrenze von +2m bis 2100 ergeben. Pfeffer machte aus der immer noch gegebenen Not (es gibt noch kein physikalisch- mathematisches Modell, das die Eisdynamik Grönlands und der Antarktis mit den globalen und regionalen Klimamodellen verbindet) auf intelligente Art die Tugend einer Abschätzung des maximal Möglichen. Die Idee war, daß man die bereits gegebene genaue Kenntnis der Geländegestaltung des Eisuntergrundes dazu benutzen kann, die Eismengen zu berechnen, die bei unrealistischen Maximalgeschwindigkeiten, weit über dem was jemals aufgetreten war, durch die Querschnitte der „Tore“ (gates) der Randgebirge des Inlandeises überhaupt strömen können. Im Fall Grönlands sind das insgesamt 170km2 mit direktem Ausfluß ins Meer. Und bei diesen Kalkulationen entstand dann ein absolutes oberes Limit von +2m Meeresspiegelanstieg bis 2100. Ebenfalls im Jahr 2007 hatten, auch in Science, Simon Holgate und Kollegen die im selben Journal publizierte Methodik von Rahmstorf als „simplistic projections“ eingestuft, die „not substantially contribute to our understanding“. Und dann kamen die ersten Publikationen von peniblen Meßreihen heraus (Holland et al., 2008, Nick et al., 2009), die zur Überraschung der slippery slope-Gemeinde eindeutig zeigen konnten, daß der Mechanismus der Eisbeschleunigung und der Zurückverlegung der Kalbungsfronten offenbar genau anders herum verläuft – nämlich nicht vom Inneren des Inlandeises her gesteuert, sondern durch ungewöhnlich warme Ozeanströmungen, die das verstärkte Kalben von den Zungenenden her antreiben. Das mag zwar auch vom „Klimawandel“ her (mit-) verursacht sein, deutet aber nicht auf die befürchtete Instabilität des gesamten Inlandeises hin. Einer der beiden Riesengletscher an denen intensiv an dieser Frage geforscht wird, der Helheimgletscher in Ostgrönland, hat übrigens seine über mehrere Jahre festgestellte rasante Zurückverlegung der Kalbungsfront wieder eingestellt und ist nun wieder stabil. Es fehlt hier der Platz, um dieses faszinierende Kapitel von gerade stattfindender Wissenschaftsgeschichte in gebührender Weise zu vertiefen. Dazu bräuchte es ein
eigenes Buch, das hoffentlich einmal von berufeneren Kollegen geschrieben wird – von Martin Lüthi von der ETH Zürich vielleicht, der viel Zeit mit derartigen Feldmeßkampagnen verbringt, oder von den amerikanischen Eisspezialisten wie Richard Alley, Ted Pfeffer, Roger Barry, vielleicht von Jonathan Bamber vom Bristol Glaciology Centre oder den dänischen Kollegen, die seit dem legendären Willy Dansgaard bis heute viel Forschungsarbeit auf und in den Inlandeismassen Grönlands und der Antarktis leisten. Nicht umsonst hat Dorthe Dahl-Jensen vom Kopenhagener Niels Bohr Institut die Kryosphärensitzung geleitet, auf die ich nun wieder zurückkommen will. Dort hat sich nämlich – entgegen dem offenkundigen Erwartungsdruck – nicht eine neue, griffige Zahl von 1 oder 2 Metern für den Meeresspiegelanstieges bis 2100 durchgesetzt. Speziell durch den energischen Widerstand und die unwiderlegbaren Argumente von Jonathan Bamber, denen sich dann auch einige andere aus der Community derer anschlossen, die wissenschaftlich wirklich in der in dieser Frage gefragten Spezialdisziplin zu Hause sind, kam es zu dem erstaunlichen Schlußstatement der Fachsitzung, daß es keine neue Zahl gibt, sondern es bis weiteres genau bei dem bleibt, was bereits in IPCC-2007 niedergeschrieben ist, also die 29 bis 59cm plus einer Unsicherheit, an der die Wissenschaft zurzeit zwar mit Hochdruck arbeitet, für die sie jedoch noch keine endgültige Antwort hat. Ich war positiv überrascht, daß sich in diesem Fall die Qualitätsmechanismen der naturwissenschaftlichen Forschung durchgesetzt hatten. Es ist nicht leicht, als Ergebnis von intensiven Bemühungen ein vorläufiges Nullergebnis zu vertreten. Genau das hat jedoch tatsächlich stattgefunden, und in meiner Erinnerung wird das als das „Wunder von Kopenhagen“ haften bleiben. Und dieses Wunder – ich unterstelle das einmal – war schließlich offenbar der Grund, daß unsere Fachsitzungsleiterin bei der Schlußsitzung nicht „mit der neuen Zahl“ auftreten konnte, da es ja keine gab. Damit ich den aus der geschilderten kleinen Episode vielleicht aufkommenden Optimismus im Hinblick auf eine rationale öffentliche Klimadebatte nicht ausufern lasse, möchte ich die Leserin und den Leser dieser Zeilen selbst beurteilen lassen, was sie oder er in der Zwischenzeit, und vor allem im Rummel um die zweite Großkonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 diesbezüglich so alles lesen oder hören konnten. Die Nullmeldung der Fachleute vom März 2009 wird es wohl nicht gewesen sein, viel eher die 1,4 Meter Rahmstorfs (sie erinnern sich, eine „simplistic projection“), und natürlich sind auch die 2 Meter der Maximalissimo-Schätzung von Ted Pfeffer und Kollegen oft zu einer realistischen Erwartung umgedeutet worden. Kurz ist der Weg der „terribles simplificateurs“ von einem theoretischen maximalen Potential (wieviel kann überhaupt im extremsten Fall durch die „Tore Grönlands“ durchfließen) zu einer „wissenschaftlich bewiesenen Tatsache“, daß das auch tatsächlich eintreten würde.
- Holland DM,Thomas RH, de Young B, Ribergaard MH, Lyberth B, 2008. Acceleration of Jakobshavn Isbrae triggred by warm subsurface ocean waters. Nature Geoscience 1: 659-664, 2004.
- Joughin I, Abdalati W, Fahnestock M, 2004. Large fluctuations in speed on Grenland’s Jakobshavn Isbrae glacier. Nature 432: 608-610
- Lüthi MP, Funk M, Iken A, Gogineni S, Truffer M, 2002. Mechanisms of fast flow in Jakobshavn Isbrae, Greenland: Part III: measurements of ice deformation, temperature and cross-borehole conductivity in boreholes to the bedrock. Journal of Glaciology 48: 369-385
- Nick FM, Vieli A, Howat IM, Joughin I, 2009. Large-scale changes in Greenland outlet glacier dynamics triggered at the terminus. Nature Geoscience 2, 110-114 DOI: 10.1038/NGEO394
- Pfeffer WT, Harper JT, O’Neel S, 2008: Kinematic constraints on glacier contributions to 21 -century sea-level rise. Science 321: 1340-1343
- Zwally HJ, Giovinetto MB, Li J, Cornejo HG, Beckley MA, Brener AC, Saba JL, Yi D, 2005. Mass changes of the Greenland and Antarctic ice sheets and shelves and contributions to sea-level rise: 1992-2002 . Journal of Glaciology 51, 509-527
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Literatur:- Holland DM,Thomas RH, de Young B, Ribergaard MH, Lyberth B, 2008. Acceleration of Jakobshavn Isbrae triggred by warm subsurface ocean waters. Nature Geoscience 1: 659-664, 2004.
- Joughin I, Abdalati W, Fahnestock M, 2004. Large fluctuations in speed on Grenland’s Jakobshavn Isbrae glacier. Nature 432: 608-610
- Lüthi MP, Funk M, Iken A, Gogineni S, Truffer M, 2002. Mechanisms of fast flow in Jakobshavn Isbrae, Greenland: Part III: measurements of ice deformation, temperature and cross-borehole conductivity in boreholes to the bedrock. Journal of Glaciology 48: 369-385
- Nick FM, Vieli A, Howat IM, Joughin I, 2009. Large-scale changes in Greenland outlet glacier dynamics triggered at the terminus. Nature Geoscience 2, 110-114 DOI: 10.1038/NGEO394
- Pfeffer WT, Harper JT, O’Neel S, 2008: Kinematic constraints on glacier contributions to 21 -century sea-level rise. Science 321: 1340-1343
- Zwally HJ, Giovinetto MB, Li J, Cornejo HG, Beckley MA, Brener AC, Saba JL, Yi D, 2005. Mass changes of the Greenland and Antarctic ice sheets and shelves and contributions to sea-level rise: 1992-2002 . Journal of Glaciology 51, 509-527
@ Eduardo und Reinhard Böhm
ReplyDeleteTypo: bei dem im Text erwähnten "Ted Pfeffer" handelt es sich wohl um W. Tad Pfeffer.
Pfeffer hat zusammen mit anderen Autoren von der University of Colorado at Boulder soeben eine interessante Arbeit veröffentlicht, die sich auf GRACE-Satellitendaten stützt.
Zitat: "we also estimate that the Greenland and Antarctic ice sheets, including their peripheral GICs, contributed 1.06 ± 0.19 mm yr−1 to sea level rise over the same time period" (2003-2010)
http://www.nature.com/nature/journal/v482/n7386/full/nature10847.html
http://www.csr.utexas.edu/grace
V. Lenzer
Vielen Dank, wirklich lesenswert!
ReplyDeleteBöhm schildert klar und anschaulich einen kurzen Abschnitt des Wissensfortschrittes anhand einer spezifischen Frage. Das Sentiment der "tiefen Verdrossenheit und Verzweiflung" kann ich hier aber weder erkennen noch teilen:
1) Ein Teilgebiet der ach so politisierten und deshalb korrupten Klimawissenschaften kommuniziert ihren Konsens, auch wenn der Erkenntnisfortschritt keine neue medienkompatible Zahl gezeitigt hat.
2) Die Medien selektieren und missrepräsentieren wissenschaftliche Ergebnisse, um Nachrichtenwert zu schaffen.
3) Ein paar Promi-Universalwissenschaftler (also keine Glaziologen) gehen den Medien ein Stück weit entgegen, weil sie nicht Klimazwiebel lesen und deshalb nicht wissen, dass die Strategie derr eskalierenden Gefahrenwarnungen nicht (mehr) erfolgsversprechend ist.
Alles weder neu noch schlimmes und bis auf 3) noch nicht mal spezifisch für die Klimawissenschaften.
'Politisiert' und 'Korrupt' sind in meinen Augen nicht unbedingt Synonyme. Korrupt wäre z.B, eine Meinung nach Aussen zu vertreten und gleichzeitig denken, dass diese falsch ist. Viele, wenn nicht alle, 'politisierte' Klimaforscher glauben fest daran, dass sie den Konsensus vertreten. Ich würde sie nicht als korrupt bezeichnen.
ReplyDeleteDiese Frage des Konsensus wird in den nächsten paar Jahren interessanter, denn in Sachen Wasserstandänderungen wird wahrscheinlich der nächste IPCC Bericht deutlich von dem Kopenhagen-Diagnosis abweichen. Wir werden dann sehen, ob diejenigen, die früher den Konsensus als ein Mittel, die wissenschaftliche Diskussion abzuwürgen, eingesetzt haben, auch so begeistert vom IPCC Bericht bleiben. Vielleicht doch.
Bleibt zumindest wissenschaftlich die Frage, wie es das Eis Groenlands in der Vergangenheit (Eem) dann schaffte so viel mehr Eis in kurzer Zeit loszuwerden.Die gekoppelten Modelle (Eis+Klima), die ich kenne, bleiben deutlich hinter den Schaetzungen zurück.
ReplyDeleteEs gibt also Wissenschaftler die im Schatten der Hansens, Rahmstorfs und Hoffmanns echte Wissenschaft betreiben. Alle Achtung.
ReplyDeleteDie meisten Leute die so politisch neutral daherkommen nennt man doch gemeinhin "Leugner", falls sie nicht zufällig angesehene Klimaforscher sind.
Die ersten Kritiker sind ja schon blitzschnell anwesend hier. Jenige werden sich wohl auch weiterhein lieber auf Deathtrains und Schmierseife berufen ... Schmierenkomödie!
Yeph
PS: Sorry, hatte ganz vergessen dass ich als Laie keine Meinung haben darf. Upps zu spät.
Meeresspiegel anstieg 2100: Im Synthesis Report steht 1m +/-0.5
ReplyDeleteHelheim spuckt zwar nicht mehr so viel Eis, aber immer noch ein wenig über der Rate von ca. 2000. Dafür war Petermann umso fleißiger mit seinem Rieseneisberg 2010...
http://climatecongress.ku.dk/pdf/synthesisreport
http://www.the-cryosphere-discuss.net/4/1195/2010/tcd-4-1195-2010.pdf
http://en.wikipedia.org/wiki/Petermann_Glacier
Politisiert oder korrupt – würde auch für politisiert plädieren, zumal korrupt hier schlecht definiert ist. Evt. müsste man sich fragen, ob die Forschung „korrumpiert“ ist durch die persönlichen Werte des Forschers (oder Missionars). Allerdings fragt man sich bei Erscheinen von Artikeln, ob es da nicht im Vorfeld irgendwelche Absprachen gibt. Ggf. ist das wie an den deutschen Tankstellen gar nicht nötig - man übernimmt sowieso die Preise der Konkurrenz um die Ecke.
ReplyDeleteIn der Tat sind wohl die raffinierten Begrifflichkeiten wie der "slippery slope to hell" kaum durch sperrige Fakten zu schlagen, die sich schlecht verkaufen. Auch nachfolgend würfelt man sich das ganze mit gezinkten Würfeln zurecht - die Extreme sind demnach die gezinkte Seite des Würfels, sie fallen öfter ohne dass man natürlich weiß, ob die gezinkte Zahl nicht zufällig sowieso gefallen wäre - das bleibt haften, komplexe Erklärungen sind nicht mehr zwingend nötig:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,823723,00.html
Original des review papers: Coumou & Rahmstorf (2012): A decade of weather extremes
Und Trenberth vor-würfelt in einem anderen Artikel (Kommentar) genau in die gleiche Richtung wie obiges paper: Die Fragen nach Extremen = Klimawandel würden falsch gestellt. Die Ähnlichkeit der Stoßrichtung der Artikel finde ich verblüffend:
Trenberth (2012): Framing the way to relate climate extremes to climate change.
Coumou & Rahmstorf: If a loaded dice rolls a six, we cannot say that this particular outcome was due to the manipulation — the question is ill-posed.
Trenberth: The answer to the oft-asked question of whether an event is caused by climate change is that it is the wrong question.
Sind die Würfel, die zu gleichen Aussagen zum gleichen Zeitpunkt führen, auch gezinkt? Ah richtig, die Frage ist ja falsch gestellt.
Die gezinkten Würfel kombiniert man noch mit etwas Betroffenheitslyrik zum Abschluss des papers: Coumou & >Rahmstorf: In 1988, Jim Hansen famously stated in a congressional hearing that “it is time to stop waffling so much and say that the evidence is pretty strong that the greenhouse effect is here”. We conclude that now, more than 20 years later, the evidence is strong that anthropogenic, unprecedented heat and rainfall extremes are here - and are causing intense human suffering.
Trenberth schließt seinen Beitrag mit (fett hervorgehoben wie im Original): Scientists are frequently asked about an event “Is it caused by climate change?” The answer is that no events are “caused by climate change” or global warming, but all events have a contribution. Moreover, a small shift in the mean can still lead to very large percentage changes in extremes. In reality the wrong question is being asked: the question is poorly posed and has no satisfactory answer. The answer is that all weather events are affected by climate change because the environment in which they occur is warmer and moister than it used to be.
Das klingt nicht mehr nach reine Wissenschaft, sondern nach Beschwörung - völlig unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit.
Bei aller Sympathie für den Versuch, etwas Ordnung in das vielstimmige Chaos um das Klima zu bringen: ich finde Reinhard Böhms Plädoyer für eine Rückkehr zur "normalen Wissenschaft" wenig überzeugend.
ReplyDeleteDie guten alten Zeiten, in denen Wissenschaftler "mit Hochdruck" an den noch ungelösten Fragen der Menschheit arbeiteten, um dann die Politik darüber zu informieren, was sie zu tun habe - bei allem rhetorischen Aufwand, bei aller Diskriminierung der "15000 Politiker, Lobbyisten, Journalisten, Klimabewegte, Klimaleugner" in Kopenhagen: diese glorreichen Zeiten für die "Handvoll Klimatologen", die auserwählten "2000", werden nie wieder kommen.
Der Beitrag ist gut als eine politische Polemik zu lesen und sollte auch so verstanden werden, auch wenn er den Eindruck zu erwecken versucht, hier spreche "die Wissenschaft" und die "Vernunft". Tut es nicht. Der wissenschaftliche Inhalt kann auf Twitter-Länge gekürzt werden:
"Die 29-59cm Meeresspeigelanstieg sind weiterhin realistisch, an den verbleibenden Unsicherheiten arbeiten die Klimatologen mit Hochdruck".
Natürlich ist es gut bei Rahmstorf&Co abgeguckt, das als "Nullmeldung" und "Wunder von Kopenhagen" zu verkaufen.
Aber insgesamt vielleicht doch bißchen wenig, um damit den Klimadiskurs ein für alle mal zu "normalisieren", nebenbei die post-normal science zu erledigen und die Rückkehr zur guten alten Zeit zu propagieren. Es hilft einfach nichts: die Klimawissenschaften sind politisiert, auch die "Mitte".
(Wobei natürlich gegen eine gut geschriebene Polemik nichts einzuwenden ist.)