Serten bat mich diesen Beitrag über Wikipedia zu posten. Der Autor hat intensive Erfahrung mit Wikipedia und seine Beobachtungen, verbunden mit einer Buchrezension zum Thema, sind sehr aufschlussreich.
Damit Ihr klug werdet – Expertise bei Wikipedia
Alex Harvey hatte sich vor Jahren
bei der Klimazwiebel zu den Climate Wars bei der englischsprachigen Wikipedia
geäußert. Stil und Argumentation in der deutschen und englischsprachigen WP
unterscheiden sich deutlich. Sie haben mit einem unterschiedlichen anderen Umgang mit Expertise und Fachwissen zu
tun. Das stelle ich im Überblick vor und gehe auf die ein oder andere auch
klimaspezifische Frage gesondert ein.
WP als Aussagebildung
Nathanial Tkacz: Wikipedia and the
Politics of Openness (University of Chicago Press, 2015) skizziert wichtige Aspekte der Entstehung und
Entwicklung der Online Enzyklopädie und
beschäftigt sich mit deren Autoren, Automatismen, Bürokraten und
Weichenstellungen.
Tkacz charakterisiert Wikipedia als
Aussagenbildner (statement formation). Als zentrale interne Statements unterscheidet
er
* NPOV, dem neutralen Standpunkt .
NPOV ist die Betrachtung eines Themas aus der Sicht wertiger Quellen, sie ist
nicht die Suche nach „einer Wahrheit“
* WP:Belege, der Forderung, Aussagen
mit wertigen Quellen zu belegen. Bei der enWP wird WP:Belege so ausgelegt, daß
für einen WP-Artikel herangezogene Quellen grundsätzlich verlässlich und für
das Thema einschlägig sein müssen. Die deWP legt generell hingegen den Fokus
auf wissenschaftliche, insbesondere geschichtswissenschaftliche Quellen.
* KTF (keine Theoriefindung, sprich
WP gibt Forschung wieder, forscht aber nicht selbst)
Tkacz nennt die sogenannten Forks
–Verzweigungen - als wesentlich für die Open Source Bewegung allgemein wie auch
speziell bei der Wikipedia. Forks sind Aufspaltungen von Softwareprojekten in
zwei oder mehrere Folgeprojekte; die Quelltexte oder Teile davon werden hierbei unabhängig vom
ursprünglichen Mutterprojekt weiterentwickelt. Auch intern spielen Themenforks,
die Unterbringung von strittigen Inhalten bei neuen oder alternativen Artikeln
oder Artikelabschnitten einen wichtigen Konfliktlösungsmechanismus wie auch
eine Ursache von Kontroversen dar.
Vorgeschichte und erste Forks
Der
WP-Gründer Wales (und sein Mitarbeiter Sanger) hatten in der Frühzeit mit dem
Projekt Nupedia versucht, eine Onlineenzyklopädie auf einer geschlossenen
Plattform durch anerkannten Experten erstellen zu lassen. Die heutige Wikipedia
enstand aus dem als Versuchsballon gedachten Ansatz, ein Onlinelexikon von
Freiwilligen ohne Zugriffsrestriktionen erstellen zu lassen. In dem Sinne war
bereits die erste WP ein weitgehender Fork. Die Wikipedia wird gerne, auch bei
Tkazc, als Teil der Open Source Bewegung mit Transparenz und Offenheit verbunden
und etwa der Open Government Initiative Barack Obamas oder dem Begriff der offenen
Gesellschaft nach Popper positiv verknüpft. Bei dieser Form der
Außendarstellung wird u.a. die bei Reagle (2010) detailliert ausgearbeitete
These von der Prägung des Gründers Wales durch den Objektivismus Ayn Rands und
die österreichische Schule Friedrich von Hayeks unter den Tisch fallen gelassen. Tkazc ringt
sich erst zum Ende seines Buchs durch, Wikipedia wie die Open Source-Bewegung als
auch neoliberale Projekte zu
charakterisieren. Die frühe Abspaltung eines Forks der spanischen WP aus
Protest gegen geplante Werbeeinblendungen blieb nicht lange erfolgreich, setzte
aber die Werbefreiheit der WP gegen den Willen der Gründer durch.
Experten?
Informell rekrutiert sich das faktische, auch inhaltlich tonangebende Führungspersonal aus dem Kreis von über regionale Stammtische oder den Verein Wikimedia gut vernetzten, langjährig tätige Autoren. Die WP zieht sich einen eigenen Typus von Experten und Expertise heran, der nicht unbedingt fachspezifisch ist.
Fehlende redaktionelle Expertise?
Die
Wikipedia hat keine Lemmaselektion.
Es existiert keine umfassende Liste der vorgesehenen Lexikonartikel (Lemmata),
sondern Relevanzkriterien, mit denen neuerschienene oder etablierte Artikel im
Falle eines Löschantrags oder bei Redundanzen geprüft werden. Ebenso gibt es
keine Fachredaktionen wie bei gedruckten Lexika - allenfalls sogenannte
Themenportale, bei denen interessierte Autoren nicht nur die Artikel in ihrem
Bereich pflegen und kategorisieren, sondern auch im Sinne von Tkacz
Statementbildung eigenständige und in dem Themenbereich anerkannte Vorgaben,
Kriterien und Formate zu ihrem Themenbereich entwickeln. Die WP hat, wie die
meisten Netzweltthemen, einen Frauenmangel, weniger thematisiert wird der
Handwerkermangel. Handwerklich beschlagene Ausnahmen wie ein beim Portal Essen und Trinken und den zugehörigen
Kategorien und Vorlagen aktiver Koch wie ein in seinem Feld langjährig aktiver Kürschner bestätigen die Regel einer
gewissen Akademikerlastigkeit.
Die
mangelnde redaktionelle Betreuung der WP führt dazu, daß Überblicksartikel, die
zumeist sehr früh entstanden sind, oft in einem schlechteren Zustand sind als
Detailartikel. Glaziologie etwa
erscheint deutlich amateurhafter als die lesenswerte Gletscherdynamik. Die WP fördert die (temporäre) Einzelleistung,
ist aber gerade bei der thematischen Vernetzung und Abstimmung von Themenfeldern
über längere Zeiträume eher schwach.
Ond öwög störbön dö Wöldur - Kontroversen?
Bei Holznot ist eine heftige
umwelthistorische Forschungskontroverse dargestellt, ohne daß diese beim Ausbau
der Artikel irgendein Hindernis dargestellt hätte. Beim Waldsterben waren nun die Ergebnisse des mit Und ewig sterben die Wälder larmoyant untertitelten Freiburger
Sonderforschungsbereich zum Waldsterben grad bei Umweltaktivisten nicht gerne
gesehen, wurden aber – da richtige
Forschung - zähneknirschend akzeptiert. Es gibt ebenso Kontroversen, etwa
den sogenannten Kreuzesstreit oder
die Donauturmkontroverse in der
deutschen WP, die kaum gesellschaftlichen Widerhall haben, aber WP-intern
erhebliche Tragweite haben.
Beim
Kreuzesstreit geht es um die sogenannten genealogischen Zeichen. Mit Kreuz und
Stern nach DIN 5001 werden nach wie vor die meisten biographischen Artikel
eingeleitet, was intern auf teilweise erbitterten Widerstand einiger sehr
aktiver Autoren traf. Ein Schriftsteller und langjähriger Mitarbeiter der deWP wurde
nun in der deWP wegen Verstößen gegen die Urheberrechtsvorgaben gesperrt. Er
hatte einen eigenen Fork angelegt, das sogenannte jewiki zu jüdischen Themen.
Den nach wie vor virulenten Kreuzesstreit verwendete er zur Propagierung seines
eigenen Projekts, WP-Autoren mit Doppelfunktion bei deWP und jewiki waren und
sind zwischenzeitlich Sanktionen ausgesetzt.
Der Wiener
Donauturm schaut zwar dem Stuttgarter Fernsehturm ähnlich, wurde aber als
reiner Aussichtsturm geplant. Die Kategorisierung als Fernsehturm in der deWP
führte zu einer Kontroverse über ganze Bildschirmmeter,
die sogar im Nachrichtenmagazin Spiegel abgebildet wurde. Hintergrund waren auch
Konflikte zwischen deutschen (schwäbischen)
und österreichischen Autoren.
Klimathemen
Was heisst
das nun fürs Klima? Es gibt eine Reihe von Artikeln zu einzelnen IPCC Berichten
und dem IPCC selbst. Man findet eine presselastige Darstellung von Climategate
wie eine naturwissenschaftlich dominierte Darstellung der Kontroverse um die
Globale Klimaerwärmung. Es gibt keine detaillierte soziologisch fundierte
Darstellung des IPCC Konsensprozesses. Die mittlerweile auch bei Nature (e.g.
David Victor 2015, doi:10.1038/520027a) thematisierte Forderung nach Einbindung
der sozialwissenschaftlichen Kontroversen in dieDiskussion um den Klimawandel
wird ignoriert. Ebenso bleibt der Vergleich der transatlantischen
Umweltpolitiken eher ein Nischenthema.
Die
Klimaartikel sind insgesamt auf einem Stand vor 2009. Die damalige Krise der
Klimapolitik ist nach wie vor nicht angekommen. Weder die Änderungen in der
Ausrichtung des IPCC nach dem Review des IPCC 2010 (durch den IAP), der Brian
Wynnes Unsicherheiten stärker in den Fokus stellte, noch die Zweifel an der
politisch-wirtschaftlichen Aussagekraft von Klimamodellen (vgl. Saltelli et al , "Climate Models
as Economic Guides: Scientific Challenge or Quixotic Quest?" 2015) werden
WP-intern breiter akzeptiert und verwendet. Die gesamte umweltgeschichtliche
Literatur wird wenig rezipiert. STS oder Wissenschaftsforschung sind kaum
vorhanden. Es gibt dafür einen sachbuchbasierten Überblick zur naturwissenschaftlichen
Forschungsgeschichte des Klimawandels und einen halbwegs tauglichen, aber
veralteten Artikel zur Klimapolitik. Der populäre Gore-Effekt war in der enWP
mehrmals gelöscht worden. In der deWP wurde das Lemma einmal mit einem
Löschantrag belegt und dann dauerhaft bestätigt, was bei der enWP mit zum
abschließenden Behalten beitrug.
Fazit
Wikipedia galt
als und ist ein Produkt auch der deutschen Netzkultur. Sie steht dieser selbst
misstrauisch gegenüber. Onlinequellen sind im Jargon pöhse, ebenso automatisch erstellte Bot-Artikel. Besonders
anerkannt sind im Sprachraum Gutenbergs Artikel, die auf gedruckten
(geschichtswissenschaftlichen) Büchern basieren. Blogger wie Fefe führen
deswegen Wikipedia mittlerweile auch als Teil des Problems und des
Establishments auf. Tatsächlich ermöglicht die WP durchaus auch (intern wie
extern) umstrittene Positionen zu dokumentieren, nur eben nicht sofort in den
Basisartikeln. Bei entsprechend unerquicklichen Diskussionen daselbst gilt es
sich nicht lange aufzuhalten, sondern eine separate Artikelbasis zu erstellen. Bei
Artikeln zu Kontroversen tut es diesen meistens gut, wenn die Kontroversen
selbst nicht innerhalb der WP wirksam sind.
In dem Sinne
erlaubt die Schwäche der WP – die mangelnde redaktionelle Überwachung, der
Fokus auf die Einzelartikel, die starke Rolle von Einzelautoren, die
divergierenden Einzelprojekte – auch den
Ausbau wie die Profilierung mit und bei nicht oder noch nicht im Onlinelexikon etablierten
Themen und Aspekten. Die tatsächlich vorhandenen Schwächen braucht und sollte man
nicht in Abrede stellen, aber die WP ist nach wie vor flexibel und
adaptionsfähig – die Voraussetzung ist aktive Mitarbeit auch gerade bei
Nischenthemen.
Bei Wikipedia immer auch die diskusionsseite lesen! Bei kontroversielle Themen ist die Diskussionsseite länger als die Themaseite.
ReplyDeleteEs gab in der deWP eine lange Kontroverse zu diesen Artikeln.
ReplyDeleteIm Jahr 2009 hatten die Kritiker irgendwann einfach keine Luste mehr auf Endlosdiskussionen mir argumentationsresistenen Umweltaktivisten mit großem Zeitbudget.
@Serten
ReplyDeleteich finde interessant, dass gerade die deWP ein Grenzfall zwischen Onlineinformationskultur und klassischer Wissensvermittlung und -produktion ist. Es wird nicht 100%ig auf Webquellen vertraut. Was durchaus gar kein so ein schlechter Ansatz für eine Enzyklopädie!!! (man sollte sich noch mal die Definition durch den Kopf gehen lassen) war. Es gibt im Internet wunderbare Informationen zu jedem Thema, aber auch sehr viel Mist, Gerüchte, Hetze, und eine extreme Empörungskultur (leider macht auch ein Hans von Storch da mit.) Wer soll da entscheiden, was gut ist? Der Rückzug auf klassische Medien ist der einfache Weg. Vielleicht aber auch der falsche.
Meine Frage: gibt es dazu Arbeiten, die diesen Übergang zwischen klassischer Wissensvermittlung und Onlinewissensvermittlung (Blogs, Wikies, Social Media, usw.) in der Wiki betrachtet? Oder ist das eine völlig falsche Idee?
Best, GHB
PS: die Kommentare #1 und #2 sind einfach nur schlecht. Der zweite Kommentar ist dazu beleidigend. Bezeichnend, dass Hans von Storch das nicht moderiert. Kennt man ja, werden die "Richtigen" angepöbelt, freut sich von Storch.
# 3 „Bezeichnend, dass Hans von Storch das nicht moderiert..“
ReplyDeleteWarum soll etwas Wahres moderiert oder zensiert werden. Bei Wikipedia haben beim Thema Klima Aktivisten die Deutungshoheit. Als ich mich dort beim Thema Klima einbringen wollte, bekam ich von einem Hauptautor direkt folgende Kursempfehlung:
https://www.futurelearn.com/courses/climate-change-challenges-and-solutions
Der Leiter des Kurses heißt Tim Lenton und ist Anhänger der Gaia-Hypothese.
https://en.wikipedia.org/wiki/Tim_Lenton
Nicht nur an dieser Empfehlung merkte ich, dass ich es u.a. mit Anhängern der Gaia-Hypothese zu tun hatte, die ein ausgesprochenes negatives Bild vom Menschen besitzen. Ein Hauptuser mit großem Zeitbudget ist nach meinen Informationen eine Mitarbeiterin des IASS in Potsdam, ein weiterer arbeitet beim PIK. Was eigentlich o.k. ist, Wissenschaftler sind ausdrücklich erwünscht. Aber die Artikel sind tendenziell einseitig, ein Artikel (Liste klimaskeptischer Organisationen und Personen) musste nach heftigen Protesten richtigerweise gelöscht werden. Auch wird dort teilweise Personenkult betrieben, Schellnhuber, Rahmstorf, Mann usw. Ich wollte z.B. im Artikel „Michael E. Mann“ den „Hackerzwischenfall“ thematisieren. Es war schließlich ein einschneidendes Ereignis im Leben des Wissenschaftlers. Einfach mal den Diskussionsverlauf im Kapitel „Hackerzwischenfall“lesen. Immer das gleiche Schema, schlägt ein Außenstehender etwas vor, tritt diese Gruppe im Rudel auf, stimmen untereinander ab und drängen so den Außenstehenden aus der Diskussion.
https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Michael_E._Mann
@GHB: Die Kluft nehme ich war, kann sie aber nicht extern belegen. Die Aussagen zu HvS finde ich nicht angemessen.
ReplyDelete@Anonymous: Bei Rahmstorf wurde unter anderem dessen gerichtliche Auseinandersetzung mit einer bekannten "grünen" kölner Journalistin und dem Verband WPK von - ich sags mal - Verehrern gelöscht, ebenso Druck auf das Lemma Markus Lehmkuhl (der verantwortliche WPK Redakteur) gemacht. Das war schon extrem.
Ansonsten finden sich nur wenig "seriöse" Skeptiker bzw. Lukewarmer in der WP, es gibt bei der deWP eine Handvoll länger aktive Klimaaktivisten und gelegentlich skeptische Zaungäste (oft von EIKE-Blogeinträgen motiviert), die ich zumeist (wenn ich das denn lese) als sehr extrem und verschwörungstheoretisch in ihren Ansichten empfinde. Wie gesagt, mit Online und Blogs braucht man in der WP nicht kommen.
Michael Mann: Nicht mit ein paar Onlineartikeln und schon gar nicht als neuling. Mit richtigen Büchern oder gar Forschung kann man sich profilieren, aber nicht im Personenartikel Mann, sondern eher beim derzeit sehr presselastigen Hackerzwischenfall oder bei erstmal konfliktfreieren Themen. Gruß Serten