Krista Sager: Vermittlungsprozesse zwischen Wissenschaft und Politik
Ich stehe hier als langjährige politische Praktikerin und das heißt, mich interessieren die politischen Herausforderungen, Gefahren und Erfolgsbedingungen, wenn zwei so unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme wie Wissenschaft und Politik aufeinandertreffen. Denn hier begegnen sich zwei Partner, die ohne einander nicht können, es miteinander aber auch nicht leicht haben. Und meine These ist: Das liegt daran, dass die Wissenschaft wissenschaftlich ist und die Politik politisch.
Um den Herausforderungen auf die Spur zu kommen, frage ich zunächst nach den Gründen für den Boom bei der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Dann werde ich anhand von praktischen Beispielen etwas über die vorhandenen Fallen und Gefahren sagen und auch der Frage nachgehen: Wie sollte eigentlich das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft in der Beratung grundsätzlich sein? Und zum Schluss will ich aus meiner Sicht noch etwas darüber sagen: Was könnte man tun, um die wissenschaftsbasierte Politikberatung zu verbessern und weiterzuentwickeln?
Der Bereich der wissenschaftsbasierten Politikberatung boomt. Es gibt heute kaum eine politische Entscheidung, bei der nicht auf neueste Gutachten und Studien verwiesen wird. Zahllose Interessenverbände, Lobbygruppen flankieren ihre politischen Vorstöße mit dem Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine wachsende Schar von Einrichtungen, Kommissionen, Räten, Stiftungen und Vereinen tummelt sich inzwischen auf diesem Feld. Es gibt geradezu eine Überflutung der Politik mit Gutachten, Analysen, wissenschaftlichen Stellungnahmen unterschiedlichster Herkunft und Qualität.
Zudem nehmen Regierungen und Parlamente die Organisation ihrer Beratung selbst in die Hand: über Enquete-Kommissionen, Anhörungen, Sachverständigenräte, wissenschaftliche Beiräte und ständige Büros, aber auch über ihre politischen Stiftungen – und dies nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene, z.B. durch den Weltklimarat (IPCC). In Deutschland kommt den wissenschaftlichen Akademien mit ihrem gemeinsamen Ausschuss1 sicher eine besondere Rolle zu, besonders nachdem die Leopoldina 2008 eigens zur Aufgabe der Politikberatung in den Rang einer Nationalakademie erhoben wurde.
Es stellt sich also zunächst die Frage: Was ist eigentlich der Grund für dieses Beratungsüberangebot und für diesen Boom? Dafür gibt es mehrere Gründe und einige davon liegen auch auf der Hand.
Die Politik sieht sich mit einer Vielzahl komplexer Fragestellungen konfrontiert, die oft hohe Fachkompetenz erfordern und über die unter hohem Zeitdruck entschieden werden muss. Dies hat häufig ein Gefühl ständiger Überforderung und daraus resultierender Verunsicherung zur Folge. Die Politik erwartet also aus der Wissenschaft Gewissheiten, Orientierungs- und Interpretationshilfen, die bessere Bewertung von Handlungsoptionen und ihren Konsequenzen. Die Politik hofft aber auch auf Entlastung durch die Wissenschaft bis hin zu einer partiellen Verantwortungsübertragung.
Antworten und Lösungen für große gesellschaftliche Herausforderungen werden zunehmend nicht mehr von der Politik, sondern aus der Wissenschaft erwartet: ob es um die Energiewende, den Klimawandel, die demografische Entwicklung, die Gesundheitsversorgung, das Internetzeitalter, Mobilität, die Zukunft der Städte, Krieg oder Frieden geht. Diese hohen Erwartungen an die Wissenschaft prägen inzwischen nationale und internationale Forschungsprogramme wie die Projektforschungsprogramme der Bundesregierung oder das europäische Forschungsrahmenprogramm Horizont 2020.2
Die hohen Erwartungen und der damit verbundene Ressourceneinsatz setzen natürlich die Wissenschaft unter Druck, dies durch Nachweise ihrer Nützlichkeit zu rechtfertigen. Das schwindende Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik rückt zunehmend die Wissenschaft in die Rolle des neuen Weltenretters und Heilsbringers.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Ermächtigung der Wissenschaft im machtpolitischen Raum. In einer modernen, demokratisch pluralistischen Gesellschaft mit ihrer großen kulturellen und ethnischen Vielfalt bei gleichzeitiger Tendenz zur Individualisierung und Segmentierung taugen Weltanschauungen, Ideologien, religiöse Überzeugungen und auch Interessen immer weniger zur Begründung politischer Entscheidungen. Es bedarf also offenbar einer neuen, quasi neutralen Vertrauensinstanz zur Legitimation von politischem Handeln. Was wäre dafür besser geeignet als eine Instanz, die sich weder einer Ideologie noch einem Interesse verpflichtet sieht, sondern schlicht nur der Wahrheit?
Wenn der Wissenschaft aber auf einem Terrain Bedeutung zuwächst, auf dem es ausdrücklich um den Kampf um Mehrheiten und Macht, um Einfluss und Interessen geht, dann kann es sich dabei gar nicht nur um die Suche nach besseren Entscheidungsgrundlagen zur Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt handeln. Darin lauern automatisch allerhand Gefahren und Herausforderungen.
Die Offenkundigste ist natürlich die des blanken Missbrauchs und der Korrumpierbarkeit, die es natürlich auch gibt. Wo sie anfängt und wo sie aufhört, ist aber nicht immer so einfach zu beantworten, wie wenn Wissenschaftler in den USA jahrelang den Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs leugnen. Gerade in der Auftragsforschung gestalten sich die Verhältnisse oft schwierig. Wenn zum Beispiel die Wirtschaftsbehörde einer deutschen Hafenstadt die Regionalökonomen einer ortsansässigen Hochschule mit einer Studie zur regionalökonomischen Bedeutung des Hafens beauftragt, die Behörde dann Nachverhandlungen über einige Formulierungen fordert und sich diese Verhandlungen sehr schwierig gestalten, kann man schon ins Grübeln kommen, wenn das nächste regionalökonomische Gutachten nicht an die universitären Regionalökonomen vergeben wird, sondern an die Prognos AG3.
Eine Vereinnahmung kann natürlich nicht nur durch die Verteilung auftragsgebundener Ressourcen erfolgen, sondern auch durch Anerkennung und Reputation im Feld von Politik und Medien. Auch wenn der Kampf um materielle und immaterielle Benefits dem Wissenschaftsbereich selbst durchaus nicht fremd ist und auch dort um Deutungshoheit gerungen wird, ist es eben nicht das Gleiche, ob eine wissenschaftliche Leistung bei Medien und Ministerien auf Anklang stößt oder bei internationalen wissenschaftlichen Peers gewürdigt wird.
Politik und Wissenschaft sind gesellschaftliche Teilsysteme mit unterschiedlichen institutionellen Währungen und bewertenden Akteuren. Und eine Stellung in der Spitzenwissenschaft und eine Poleposition in der Beratung gehen keineswegs immer Hand in Hand. Eine Studie, die im Zuge des sogenannten Ökonomenstreits über die Rolle und Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise veröffentlicht wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass 94 Prozent der in der politischen Beratung tätigen VWL-Professoren nicht zu den 100 leistungsstärksten Forschern in ihrem Fach gehören.4
Wissenschaft und Politik können durch verfestigte Anerkennungs- und Selbstbestätigungsrituale durchaus jahrzehntelang den gleichen Moden und paradigmatischen Mainstream-Meinungen folgen – bei Verdrängung von heterodoxen5 Richtungen – und am Ende ein gemeinsames böses Erwachen erleben.
Die besondere Gunst der Politik kann natürlich auch einen gewissen fachlichen Übermut gegenüber anderen Peers begünstigen, die sich in den Niederungen ihres Faches mühen. Im Frühjahr dieses Jahres bescheinigte die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission für Forschung und Innovation dem Erneuerbare-Energien-Gesetz auf nur zwei Seiten und anhand eines einzigen Parameters, keinerlei innovative Impulse gesetzt zu haben.6 Dem widersprach umgehend eine Gruppe von nationalen und internationalen Wissenschaftlern um das Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI).7 In einem vom ISI veröffentlichten Buch kamen Experten anhand zahlreicher verschiedener Parameter zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis.8
Mit der Gunst der Politik kann es freilich auch schnell vorbei sein. Nicht selten werden nach einer Bundestagswahl die Sachverständigen der Beratungsgremien ausgewechselt. Wissenschaftliche Beratung nach Parteienproporz darf als Indikator gelten, dass Politik oft genug eher nach der Legitimation von vorgefertigten Meinungen als nach neu-? en Erkenntnissen sucht. Aber es gibt zum Glück auch Beispiele dafür, dass mit Hilfe der Wissenschaft nicht nur die fundierte Interpretation von Daten und Fakten, sondern auch die Beförderung neuer Weltbilder gelingen kann. Für die Neubewertung der frühkindlichen Betreuung in Krippen und Kindergärten in Deutschland kamen entscheidende Impulse aus der Wissenschaft, z.B. von amerikanischen Langzeitstudien.
Bei so schönen Chancen zur Weltverbesserung darf es nicht verwundern, dass mancher Wissenschaftler am liebsten selbst in die Rolle des Politikers schlüpft, allerdings ohne sich der Mühe demokratischer Legitimation zu unterwerfen. Jeder von Ihnen hat schon Wissenschaftler im Morgenmagazin oder in einer Talkshow erlebt, deren missionarischer Eifer den eines normalen Politikers glatt in den Schatten stellt. Politischer Übereifer geht nicht selten mit übertriebenen Wirkungserwartungen und geringer Frustrationstoleranz einher.
Werden wissenschaftsbasierte Handlungsempfehlungen nicht eins zu eins umgesetzt, bewerten viele Wissenschaftler dies als eklatantes Politikversagen angesichts objektiver Notwendigkeiten und haben dafür nur eine Erklärung: blanker Opportunismus. Mich erinnert dies an die ständige Klage auf grünen Parteitagen, warum grüne Parteitagsbeschlüsse nicht eins zu eins in Regierungshandeln umgesetzt werden. Dabei ist die Antwort einfach: Das ist Demokratie.
Auch Wissenschaftler täten manchmal gut daran, sich zu verdeutlichen, dass in einer Demokratie Entscheidungen nicht durch Wahrheitsanspruch, sondern durch Mehrheiten legitimiert werden. Das heißt, Politik folgt gezwungenermaßen Handlungslogiken, die aus wissenschaftlicher Sicht dysfunktional erscheinen mögen, aber zur Mehrheitsbildung notwendig sind, wie das Suchen nach Konsens, Kompromissen, geeigneten Bündnispartnern, die Berücksichtigung von Akzeptanz oder Gegenwehr in Parteien, Parlamenten und in der Bevölkerung. Und wie auf jedem guten Schiff hat die Politik auch Sorge dafür zu tragen, dass bei den verschiedenen Manövern nicht Teile der Besatzung oder gar der Kapitän selbst über Bord gespült werden.
Neben dem politischen Übereifer ist natürlich die Nutzung der Politikberatung zur Selbstvermarktung oder für eigene Interessen ein heikles Terrain. Die erste gemeinsame Empfehlung der Akademien zur Zukunft der Energieforschung in Deutschland war ein buntes Potpourri, was auf dem Feld so alles stattfindet, verbunden mit der Forderung an
die Politik, dies nun auch schön weiter zu finanzieren. Ich hatte damals den Eindruck, da hat sich eine Beutegemeinschaft zusammengefunden, in der die eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.
Auch grobe Übertreibungen im Eigeninteresse kommen durchaus vor. Als der Deutsche Bundestag über die Veränderung der Stichtagsregelung für in Deutschland zugelassene embryonale Stammzelllinien zu entscheiden hatte, traten einige Forscher in der Anhörung so auf, als stünde man unmittelbar davor, Alzheimer zu heilen und Querschnittsgelähmte wieder zum Gehen zu bringen.
Oft liegt das Eigeninteresse der Forschung auf der Hand und ist auch keineswegs ehrenrührig. Es zeigt sich aber, dass auch ein System, das sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, manchen blinden Fleck haben kann. Z.B. bei der Frage, ob und inwieweit bei entwicklungsgestörten Kindern und Jugendlichen gendiagnostische Methoden zur Anwendung kommen sollten, betonten die wissenschaftlichen Akademien die Chancen für die Forschung. Der Deutsche Ethikrat diskutierte stärker Fragen der informationellen Selbstbestimmung.
Die Position, eine größtmögliche Distanz schütze am besten vor der Vereinnahmung durch Politik und Medien und sei daher die beste Grundlage für eine wissenschaftsbasierte Politikberatung, halte ich ausdrücklich für falsch, auch wenn die Wahrung von Autonomie, wissenschaftlicher Unabhängigkeit, Wahrhaftigkeit und Vielfalt der Perspektiven immer wieder kritisch überprüft werden muss.
Wer sich auf das Feld der wissenschaftsbasierten Politikberatung begibt, sollte mit den Gesetzmäßigkeiten und Handlungslogiken praktischer und operativer Politik vertraut sein und diese bei seinen Empfehlungen nicht unberücksichtigt lassen. Dabei geht es nicht nur um Mehrheiten, sondern auch um Zeit und Geld. Empfehlungen, die idealtypisch gedacht, aber unbezahlbar sind, haben wenig Aussicht auf Erfolg. Richtiges Timing spielt in der Politik eine zentrale Rolle. Für eine bestimmte Empfehlung kann es sowohl zu früh als auch zu spät sein. Der direkte und kontinuierliche Dialog mit politisch handelnden Personen schärft nicht nur das Verständnis dafür, wann in der Politik was ansteht oder was die Politik umtreibt, sondern auch dafür, was von der Wissenschaft erwartet und wie dieses beim strategischen Denken und Handeln berücksichtigt werden kann. Beispielhaft funktioniert das seit Langem sehr gut zwischen dem Deutschen Bundestag und seinem Büro für Technikfolgenabschätzung. Auch die Akademien tun gut daran, der Gestaltung der Schnittstellen noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn die seriöse Politikberatung immer auch Grenzen und Unsicherheiten der wissenschaftlichen Erkenntnisse aufzeigen und eine Empfehlung meist mehr als nur eine Handlungsoption enthalten wird – schließlich ist das Wort „alternativlos“ in der Politik schon hinreichend überstrapaziert worden –, die Politik wird doch am Ende immer fragen: Where’s the beef? Eine Empfehlung sollte z.B. nicht den Peers zuliebe so verklausuliert und relativiert werden, dass sie am Ende nur Verwirrung stiftet. Es steht außer Frage, dass eine wissenschaftliche und theoriebasierte Vorgehensweise auch für die wissenschaftsbasierte Politikberatung unverzichtbar ist. Es macht aber keinen Sinn, diese Wissenschaftlichkeit wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Auch der enthusiastische Umweltpolitiker wird sich am Ende eher mit den Maßnahmen und Konsequenzen im dritten Teil des IPCC-?Berichts befassen und weniger mit den wissenschaftlichen Grundlagen.
Wer mit den besten Absichten das Schlachtfeld der Politik betritt, sollte auch nicht zu empfindlich sein, wenn er als Kombattant behandelt wird und wahlweise der Verharmlosung oder Panikmache bezichtigt wird. Verständnis für die Welt strategischen und taktischen Denkens und Redens schützt eher vor Enttäuschung als die bloße Distanz.
Bemerkenswert finde ich, dass es in und zwischen den Akademien offenbar kein einheitliches Verständnis darüber gibt, wie das grundsätzliche Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik aussehen sollte. Deutlich wurde dies z.B. angesichts der Empfehlung der wissenschaftlichen Akademien zur Präimplantationsdiagnostik.9 Diese unterschied sich kaum von dem mehrheitlich gefassten Beschluss des Deutschen Bundestags, dennoch wurde die Frage, ob die Akademien zu einer offenkundig stark von weltanschaulichen und ethischen Präferenzen geprägten Thematik eine eindeutige Handlungsempfehlung abgeben sollten, heftig und kontrovers diskutiert – und zwar in der Politik und in der Wissenschaft. Obwohl ich mit der Stellungnahme damals keine inhaltlichen Probleme hatte, teile ich nicht die Auffassung der Leopoldina, dass die Wissenschaft ihr besonderes Gewicht sichert, indem die im Arbeitsprozess überwiegend konsentierten Ergebnisse nach außen einheitlich und mit einer Stimme vertreten werden. So streng geht es nicht mal in der Politik zu, schon gar nicht bei den Grünen.
Ottmar Edenhofer vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung plädiert im letzten Jahresmagazin der Berlin-Brandenburgische Akademie aus meiner Sicht völlig zu Recht für ein anderes Modell: nämlich für „die Exploration politisch relevanter Konsequenzen alternativer Optionen“ und die offene Diskussion von Wertentscheidungen.10 Widerspruch und Kritik seien der Wissenschaft selbst inhärent und die Berücksichtigung heterodoxer Ansätze in der wissenschaftlichen Politikberatung entspreche den Bedürfnissen einer pluralistischen Gesellschaft. Ich teile ausdrücklich die Auffassung, dass ein technokratisches Modell, das die Wahrheit einseitig auf Seiten der Wissenschaft und die Politik als bloß implementierende Instanz ansieht, nichts mit Demokratie zu tun hat. Die umgekehrte Reduktion der Wissenschaft auf die Rolle eines bloßen Dienstleisters, bei dem dann wiederum der politisch Verantwortliche sich nach Lust und Laune das Brauchbare heraussucht: Ein solches dezisionistisches Modell nach Max Weber11 ist sicher einer modernen, pluralistischen Gesellschaft auch nicht angemessen. Ich bin hier auch ganz auf der Seite von Edenhofer, der in Anlehnung an Habermas für ein pragmatisches Modell mit einem gleichberechtigten Miteinander von Politik und Wissenschaft plädiert, im Dialog auf Augenhöhe zwischen beiden Teilsystemen.
Dabei kann ich aber eine gewisse Sorge bei den Befürwortern eines Einstimmigkeitsprinzips nachvollziehen, nämlich die Befürchtung, dass die Vertrauenskrise von Politik und Medien auf die Wissenschaft übergreifen könnte, wenn der Eindruck entsteht, dass sich für jede politische Meinung auch schon irgendwo die passende wissenschaftliche Untermauerung finden lässt.
Nun ist Vertrauen in gesellschaftliche Instanzen immer relativ. Im Verhältnis zu Politik und Medien scheint mir das Vertrauen in wissenschaftliche Expertise noch halbwegs intakt. Allerdings wird das Vertrauen nicht mehr der Wissenschaft per se entgegengebracht, sondern Politiker und Bürger fragen zunehmend nach der Vertrauenswürdigkeit einzelner wissenschaftlicher Einrichtungen und Institutionen sowie nach der Reputation einzelner Wissenschaftler. Es wird also genauer hingeschaut. In diesem Zusammenhang gewinnt natürlich die Frage nach Qualitätskriterien und Standards für seriöse Politikberatung an Bedeutung, anhand derer man gute Praxis von schlechter Praxis unterscheiden kann.
Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat bereits 2008 Leitlinien für die wissenschaftliche Politikberatung erarbeitet.12 Diese wurden 2010 von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften als Kodex übernommen. Bedauerlich ist allerdings, wenn sich nicht einmal die Akademien selbst an diese Leitlinien halten. Im September 2012 veröffentlichte acatech z.B. die Stellungnahme Anpassungsstrategien in der Klimapolitik13, bei deren Erarbeitung in mehrfacher Weise gegen die eigenen Leitlinien verstoßen wurde. Dass neben den beteiligten Wissenschaftlern Interessenvertreter wie die Wirtschaftsvereinigung Stahl, die Landwirtschaftskammer, Thyssen-Krupp, Daimler, der Verband der Chemischen Industrie, RWE, Vattenfall und HeidelbergCement gleichberechtigt mitwirkten, hat mit Nachvollziehbarkeit und transparenten Regeln bei der Auswahl der Beteiligten nichts zu tun, zumal es keine nachvollziehbare Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Expertise und interessensgeleiteter Expertise gab. Vier renommierte Wissenschaftler verließen das Projekt vorzeitig. Dies findet sich in der veröffentlichten Stellungnahme nur als Fußnote wieder, über die Hintergründe erfährt man nichts. Dies wirft kein gutes Licht auf den Stellenwert von selbst verordneten Leitlinien in der Arbeit von acatech. Gerade wenn die Einbeziehung nicht-wissenschaftlichen Wissens in der transdisziplinären Forschung an Bedeutung gewinnt und auch die Partizipation gesellschaftlicher Akteure in Stakeholder-Dialogen im Forschungsbereich aktuell zunimmt, brauchen die Prozesse und Verfahren mehr Aufmerksamkeit zur Wahrung von Unabhängigkeit, Transparenz und Qualität. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Akademien sich in der Arbeitsgruppe um Peter Weingart14 dem Thema Standards für die gute Praxis der Wissenschaftskommunikation gewidmet haben.15 Der Siggener Kreis hat im Siggener Aufruf16 ebenfalls Empfehlungen für Qualitätsstandards in der Wissenschaftskommunikation veröffentlicht.
Die Volkswagen-Stiftung hat vorgeschlagen, diese beiden Ansätze in einer Charta für gute Wissenschaftskommunikation zusammenzuführen. Aus meiner Sicht könnte eine Zusammenschau dieser Aktivitäten mit den Leitlinien von 2008 dazu beitragen, die Qualität der wissenschaftsbasierten Politikberatung in Deutschland zu verbessern und weiterzuentwickeln. Dabei würde ich dann allerdings kritisch hinterfragen, ob die Empfehlungen der Akademien nicht an mancher Stelle zu idealtypisch gedacht sind oder Verantwortlichkeiten zu vorschnell an die Politik abschieben.
Bedauerlich ist sicher, dass die Politik sich nur für den Nutzen wissenschaftsbasierter Empfehlungen interessiert, aber kaum für das „Wie“ ihres Zustandekommens, oder höchstens, wenn ihr die Ergebnisse nicht passen. Die Akademien sollten die Beratungspraxis viel stärker auf die Berücksichtigung von Leitlinien und Standards hin überprüfen und der Transparenz von Verfahren und Strukturen sowie der Wahl der Instrumente mehr Bedeutung beimessen. Ob die Prozesse, Strukturen und Instrumente den Zielen und Fragestellungen angemessen sind, hat wichtige Auswirkungen auf die wissenschaftliche Qualität. Dies setzt allerdings eine regelmäßige Evaluation und ein selbstkritisches Monitoring der einzelnen Projekte voraus. Dabei sollten natürlich nicht nur Verfahrensstandards überprüft werden, sondern auch die wissenschaftliche Qualität immer wieder zum Gegenstand kritischer Bewertung gemacht werden. Hierbei ist auch zu fragen, ob tatsächlich alle notwendigen Disziplinen einbezogen wurden und wie mit nicht-wissenschaftlichem Wissen oder mit heterodoxen Ansätzen umgegangen wurde.
Wie in Zukunft demokratische Legitimation, wissenschaftliche Expertise, Partizipation und Dialogverfahren sinnvoll zusammengedacht und zusammengebracht werden können, stellt sicher eine besondere Herausforderung dar. Für die wissenschaftsbasierte Politikberatung halte ich es für unabdingbar, dass – soweit das noch nicht geschehen ist – Dialoge zwischen Politik und beratender Wissenschaft kontinuierlich etabliert werden und dafür themen- und anlassbezogene Formate gefunden werden. Die wissenschaftsbasierte Politikberatung sollte dabei selbst stärker als bisher Gegenstand von Forschung werden. Das Thema Wissenschaftsbasierte Politikberatung und Wissenschaftskommunikation, ihre Voraussetzungen und Implikationen sollten auch stärker als bisher eine größere Rolle in der wissenschaftlichen Ausbildung einnehmen.
Es ist auch die Frage zu stellen, wie das Engagement in der unabhängigen wissenschaftsbasierten Politikberatung auch im Reputations- und Anerkennungssystem der Wissenschaft berücksichtigt werden kann und nicht nur in der Politik.
Und last, but not least: Wenn die unabhängige wissenschaftliche Politikberatung an Bedeutung gewinnt, erfordert dies eine angemessene Ressourcenausstattung mit Zeit und Geld.
Meine Schlussbemerkung: Ich teile die Aussage des Siggener Kreises, dass öffentlich finanzierte Wissenschaft verpflichtet ist, sich öffentlich zu erklären. Das schließt die Beratung von Politik, Gesellschaft und Medien mit ein. Dies eröffnet aber auch die Chance, die Gesellschaft für die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft und die Bedingungen für gute wissenschaftliche Praxis zu sensibilisieren, damit die Gesellschaft auch besser versteht, unter welchen Bedingungen Wissenschaft die Rolle des ehrlichen Maklers übernehmen kann.
1 Der Ständige Ausschuss der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina wurde für die Zusammenarbeit zwischen Leopoldina, der Union der Akademien der Wissenschaften und acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften eingerichtet. http://www.leopoldina.org/de/politikberatung/staendiger?ausschuss/ (Stand: 25.11.2014).
2 Horizont 2020 ist ein Programm der Europäischen Union für Forschung und Innovation. Es sollen Projekte im Bereich Wissenschaft, Innovation und Technologie von Hochschulen, Forschungsinstituten und Unternehmen gefördert werden. Vgl. https://www.bmbf. de/pub/horizont_2020_im_blick.pdf (Stand: 06.03.2015).
3 Die Prognos AG ist ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, das Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu zukunftsrelevanten gesellschaftlichen Themen berät. Es hat sechs weitere Standorte in Deutschland. Vgl. http://www.prognos.com/ueber-uns/die-prognos ag/ (Stand: 09.12.2014).
4 Haucap, Justus; Mödl, Michael: Zum Verhältnis von Spitzenforschung und Politikberatung. Eine empirische Analyse vor dem Hintergrund des
Ökonomenstreits. DICE Ordnungspolitische Perspektiven, Nr. 40, Düsseldorf, 2013.
5 Andersgläubig, von der vorherrschenden Meinung abweichend.
6 Vgl. Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) (Hrsg.): Das EEG aus innovationspolitischer Sicht. In: Gutachten zu Forschung,
Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2014. Berlin, 2014; S. 51–52.
7 Das 1972 gegründete Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung mit Sitz in Karlsruhe erforscht, wie Innovationen entstehen und welche Auswirkungen sie haben und berät damit Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Vgl. http://www.isi. fraunhofer.de/isi-?de/index.php (Stand: 09.12.2014).
8 Vgl. Walz, Rainer; Ragwitz, Mario: Erneuerbare Energien aus Sicht der Innovationsforschung, Konzeptionelle und empirische Grundlagen einer innovationsorientierten Ausgestaltung der Politik zur Förderung erneuerbarer Energietechnologien. ISI-Schriftenreihe Innovationspotentiale. Stuttgart: Fraunhofer, 2011.
9 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Präimplantationsdiagnostik (PID) – Auswirkungen einer begrenzten Zulassung in Deutschland. Halle (Saale), 2001.
10 Vgl. Die Kartografie gangbarer Zukunftspfade. Modelle wissenschaftlicher Politikberatung. Cornelis Menke im Gespräch mit Ottmar Edenhofer. In: Jahresmagazin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2013/2014. S. 58–65.
11 Vgl. Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland: zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München, Leipzig: Duncker & Humblot, 1918.
12 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Leitlinien Politikberatung. Berlin, 2008.
13 acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Hrsg.): Anpassungsstrategien in der Klimapolitik (acatech Position). München, 2012.
14 Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Zum Verhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften wird von Peter Weingart von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geleitet. Sie analysiert die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Medien. http://www.bbaw.de/forschung/wissenschaft--oeffentlichkeit--medien/uebersicht (Stand: 10.12.2014).
15 acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e.V., Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (Hrsg.): Zur Gestaltung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und den Medien. Berlin, 2014.
16 Siggener Aufruf – Wissenschaftskommunikation gestalten. Positionspapier zur Tagung des Siggener Kreises im April 2014. Vgl. http://www.wissenschaft-im-dialog.de/ueber-uns/siggener-kreis/ (Stand: 06.03.2015).
2 comments:
Es ist vielleicht interessant, dass Frau Sager und ich bei der Veranstaltung in Geesthacht beide einen Vortrag hatten, ganz und gar unabhängig natürlich, die ich als sehr konsistent empfand. Meiner hiess Die Klimaforschung - und politischen Willensbildung.
Frau Sager beschreibt vor allem die Problematiken der wissenschaftlichen Politikberatung sehr genau.
Die Auswahl der Beispiele wiederum zeigt auf, daß sie vielleicht selbst nicht so ganz die Implikationen Ihrer Ausführungen verstanden hat. Sie kritisiert die "Reduktion der Wissenschaft auf die Rolle eines bloßen Dienstleisters, bei dem dann wiederum der politisch Verantwortliche sich nach Lust und Laune das Brauchbare heraussucht", verwirft aber dann grundsätzlich jedes Ergebnis wissenschaftlicher Politikberatung, das nicht in ihr Weltbild paßt.
Glaubt sie gar, ihre Sicht auf die Welt sei die einzig gültige und müsse daher zwangsweise wissenschaftliche Bestätigung finden?
Ich verstehe (als ein herausgegriffenes Exempel) beispielsweise nicht, warum aus Unternehmen und Verbänden wie "Wirtschaftsvereinigung Stahl, die Landwirtschaftskammer, Thyssen-Krupp, Daimler, der Verband der Chemischen Industrie, RWE, Vattenfall und HeidelbergCement" nicht auch beachtenswerte wissenschaftliche Expertise kommen sollte oder könnte.
Die meisten "Wissenschaftler" (hier meine ich Personen mit akademischer Ausbildung) arbeiten eben nicht im staatlich finanzierten Wissenschaftsbetrieb.
Meine Schlußfolgerung aus der Rede ist eindeutig: Wissenschaftliche Politikberatung ist Mumpitz und wird immer scheitern (respektive nutzlos sein). Politiker ändern ihre Entscheidungskriterien (Wiederwahl) nicht, und sei es sachlich/inhaltlich noch so geboten.
Ein schönes aktuelles Beispiel ist Fracking. Hier stellt sich die Politik gegen jede fachliche Einschätzung, selbst gegen ihre eigenen mit dem Thema befassten Landes- und Bundesämter. Weil der Wähler es so will. Das wird sich nicht ändern.
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